Nun sind wir also endlich stolzer Besitzer einer Wanderkarte, was gar nicht so einfach war, denn selbst im einschlägigen Handel vor Ort bekamen wir auf unsere Frage immer wieder zu hören „Rago? Wanderkarte? Nein, tut uns leid.“ Nördlich von Fauske verlassen wir die E6 und folgen dem Hinweis „Rago“. Von Lakshola aus gibt es von Westen her einen Zustieg in das Kerngebiet des Nationalparks. Dieses Lakshola ist zwar auf unserer Straßenkarte als kleine Ortschaft eingezeichnet, aber es erscheint auf keiner einzigen Hinweistafel und einen Ort gibt es im ganzen Tal nicht. Nach rund zehn Kilometern endet die Straße vor einem alten Gehöft und einem Campingplatz und wir stehen etwas ratlos vor unserem Auto bis man uns aufklärt: „Das hier ist Lakshola und die steile Fuhre vor uns in den Wald ist der Zustieg zum Rago Nationalpark“. Nun gut, dann kann es ja los gehen.
Wir schultern unsere Rucksäcke und sind schon nach einem kurzen aber steilen Anstieg mitten drin in dieser unberührten, wilden Bergwelt des Rago Nationalparks. Den Bach entlang, durch urwaldähnliches Dickicht, über Moorwiesen und über die Brocken eines Felssturzes steigen wir aufwärts. Es ist zwar ein markierter Weg, dem wir folgen, doch der ist oft selbst dann nicht als solcher zu erkennen, wenn man auf ihm steht. Einziges Zugeständnis an den Wanderer ist eine Hängebrücke und über den Sumpf verlegte Halbstämme. Immer wieder treffen wir auf frische Elchlosung, die uns verrät, dass wir bei aller Einsamkeit doch nicht alleine sind. Weiter oben wo der Wald lichter wird und der Boden trockener stehen in einer geschützten Senke alte Kiefern, die in der warmen Nachmittagssonne diesen typischen Geruch von Bergwald verströmen.
Grüne Hölle im hohen Norden
Und dann stehen wir ganz unvermittelt vor der Storskogvasshytta am Storskogsvatnet, was übersetzt Großer Waldsee heißt. Der hölzerne Riegel liegt noch vor der Türe, wir sind die einzigen Besucher hier. Unser Zelt kann im Packsack bleiben, wir werden heute in der Hütte übernachten! Vom nahen Bach holen wir Wasser und kochen uns Kaffee – draußen in der Sonne auf der Bank an der Hauswand – ein herrlicher Platz, wenn, ja wenn da nur nicht die Mücken wären, für die wir ein willkommenes Fressen sind. Jetzt könnte uns unser Mückenroller gute Dienste leisten, doch der liegt unten im Auto, wie noch ein paar andere Sachen auch, die das Leben in der Wildnis angenehmer machen.
Der nächste Morgen. Es regnet, nicht besonders heftig, aber es reicht zum nass werden. Was macht man in so einem Fall? Man frühstückt ausgiebig, blättert in den alten Hüttenbüchern und schmökert in den ausgelegten Prospekten – alles sehr gemütlich, aber leider kein tagesfüllendes Programm. Gegen Mittag hat dann der Himmel ein Einsehen mit uns und mit einem Tagesrucksack ziehen wir los zur Ragohytta.
Die Luft ist schwülwarm und entsprechend Schweiß treibend ist der erste Anstieg durch den steilen Bergwald. Im Wald ist das Gehen besonders mühsam, denn dort kommen zu den üblichen Hindernissen wie Felsbrocken und Sumpfstellen auch noch glitschige Wurzeln hinzu. Andererseits bietet aber so ein Baum auch ab und zu einmal eine willkommene Zughilfe. Wir krabbeln über die nassen, bemoosten Brocken eines Felssturzes. Mitten in diesem Gewirr aus Steinen finden wir Elchlosung und in frage mich, wie um alles in der Welt denn ein Elch mit seinen langen, staksigen Beinen hierher kommt.
Erst über der Waldgrenze wenn der Blick frei wird, bekommt man einen Eindruck davon, wie gegliedert und kupiert das Gelände im Rago Nationalpark ist – geformt von den gewaltigen Kräften der eiszeitlichen Gletschermassen, die wie mit einem Hobel über den Granit geschrammt sind und Schluchten und Felsabbrüche aber auch spiegelglatte Felsplatten hinterlassen haben. Hier geht man nicht einfach von A nach B, auch wenn es nur ein paar Kilometer sind. Selbst auf unserem „Weg“ kommen wir nur langsam voran. Neun Kilometer sind es bis zur Ragohytta, aber die wollen bewältigt werden.
Aber hier zu gehen ist auch sehr spannend und wir warten immer neugierig darauf, was uns wohl hinter der nächsten Kuppe erwartet. Ein Schneehuhn, am Bauch noch das weiße Winterkleid, lässt sich auf unserem Weg nieder und flattert dann ein paar Meter aufgeregt vor uns her, ehe es unter lautem Protest auf einen Felsen fliegt. Wir sind hier Störenfriede in dieser leeren, stillen Landschaft. Es beginnt wieder zu regnen und wir kehren um, noch ehe wir die Ragohytta ganz erreicht haben.
Schlechtes Wetter auch am nächsten Morgen, dazu ist es warm, viel zu warm eigentlich, um sich die Regensachen überzuziehen. Also ist wieder ein ausgiebiges Frühstück fällig. Mittags bessert sich dann das Wetter und wir verlassen die gemütliche Storskogshytta, auf der wir zwei Tage lang die Alleinherrscher waren.
Wir werden heute über den Litlverivatnet nach Lakshola zurück gehen. Acht Kilometer sind es nur, aber die reine Gehzeit ist mit sechs Stunden veranschlagt. Wie stand doch gleich in dem Prospekt, den wir in der Hütte fanden? „Die Kilometer werden länger in diesem kupierten Gelände.“ Wie wahr! Bergrücken folgt auf Bergrücken, ein Talkessel dem anderen und immer wieder liegen kleine Seen dazwischen eingebettet. Wir steigen
Geländestufen hinauf und hinunter. Wir überqueren Bäche, sumpfige Wiesen und glatt gehobelte Granitplatten, auf denen es sich beinahe wie auf einer Asphaltstraße geht. Wir kraxeln mühsam über die riesigen Blöcke eines Felssturzes und waten knöcheltief durch den Auslauf eines Sees. Wir gehen und gehen mit der gleichen Ruhe und Zeitlosigkeit wie die Landschaft, die uns umgibt. Oben auf der Hochfläche pfeift ein Heilo seinen lang gezogenen, klagenden Ruf, der so nach Einsamkeit und Verlassensein klingt, wie kein Vogelruf sonst.
Während unserer Rast am Litlverivatnet kommt die Sonne durch! Die Berggipfel, die den Rago Nationalpark im Halbkreis umstehen, schälen sich einer nach dem anderen aus den Wolken und rahmen eine Urlandschaft ein, wie sie grandioser nicht sein kann. Tief unter uns schlängelt sich der Fluss durch das Nordskadet, durch das wir vor zwei Tagen aufgestiegen sind. Türkisgrün und glasklar ist sein Wasser. Wir schauen hinüber zum Storskogsvatnet und zu dem Talkessel, in dem die Ragohytta liegt. Klein und überschaubar wirkt der Rago aus dieser Perspektive. Mittlerweile wissen wir, dass er seine wahre Größe erst dann zeigt, wenn man in ihm unterwegs ist
Nach dem Litlverivatnet geht es dann nur noch hinunter nach Lakshola, doch was heißt hier schon nur? Noch gut ein Dutzend mal geht es in gewohnter Weise auf und ab. Die 250 Meter Höhenunterschied vom Storskogsvatnet bis zum höchsten Punkt der Tour lassen sich getrost verdrei- oder vervierfachen. Auch die ersten Menschen, auf die wir nach drei Tagen wieder treffen, bedeuten noch lange nicht, dass wir es geschafft haben. 200 Meter Abstieg über einen steilen, glitschigen Waldpfad hinunter nach Lakshola fordern noch einmal unsere strapazierten Muskeln. Um halb neun sind wir zurück am Auto – müde aber glücklich.
Text & Fotos: © SkandAktiv, Juni 2006
Wir haben unsere Tour im Juni unternommen, denn dann hat man in der Regel das beständigste und trockenste Wetter. Allerdings kann man sich, wie erlebt, nicht darauf verlassen. Ein unbestreitbarer Vorteil aber sind 24 Stunden Helligkeit.
Die Storkogvasshytta bietet 4 Schlafplätze und es ist in jedem Fall ratsam, ein Zelt mit dabei zu haben. Bei schönem Wetter bietet sich ohnehin eine Zeltübernachtung auch an anderen Stellen an.
Empfohlene Karte: Statens Kartvert Sisovatnet, 1319, 1:50.000
(zu beziehen über SkandAktiv)
Schutzhütten im Nationalpark:
Storskogvasshytta, Ragohytta